Artikel des Monats von Dr. Friedrich Assländer: Ich habe keine Zeit – Unsere Sprache verrät uns

Ich habe keine Zeit
Unsere Sprache verrät uns: Wenn wir denken oder sagen „Ich habe keine Zeit“ dann meinen wir, ich habe keine Zeit für dich, für meine Familie, für meine Interessen, für mein Vergnügen. Wir kommunizieren unvollständig und denken die Sache auch nicht konsequent zu Ende. Wir verschweigen, dass wir in Wirklichkeit etwas anderes für wichtiger, wertvoller oder manchmal auch für bequemer halten und das vorziehen. Genau so inkorrekt und irreführend ist der Sprachgebrauch: „Ich muss noch länger im Büro bleiben“. Das klingt als würden wir von jemanden gezwungen. Wir könnten stattdessen die Situation korrekt beschreiben und sagen: „Ich will keinen Ärger mit meinem Chef, deswegen bleibe ich länger im Büro.“ Oder: „Ich habe noch eine wichtige Arbeit, die ich erledigen will.“ Wir selbst treffen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Entscheidung wie wir unsere Zeit verbringen und wir sollten dazu auch stehen und nicht anderen die Schuld geben. Durch Redewendungen wie „ich muss…“, oder „es geht nicht anders“ schieben wir die Verantwortung anderen zu. Wir möchten als Opfer und damit als unschuldig erscheinen. Es sieht auch viel besser aus, wenn die Schuld beim Chef, beim Kunden oder den widrigen Umständen liegt. Nur damit belügen wir vor allem uns selbst, weil wir mit diesen Redewendungen uns selbst suggerieren, dass wir nichts ändern können. Wenn jemand denkt, dass der andere, der Kunde oder Chef, die Ursache seines Zeitproblems ist, dann denkt er implizit auch, dass nur der andere sein Problem lösen kann. Er nimmt sich unbewusst selbst seine Handlungsfreiheit. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit und Mut kann da einiges ändern. Wir sollten sagen, ich habe keine Zeit für dich, weil mir im Moment etwas anderes wichtiger ist. Dadurch kommen wir in eine Reflexion unserer Werte. Was ist wirklich wichtig? Vielleicht ergibt sich aus dieser Ehrlichkeit auch ein klärendes Gespräch und ein besseres gegenseitiges Verstehen. Vor allem sollten Sie sich selbst die Entscheidung und die zu Grunde liegenden Wertmaßstäbe bewusst machen. – Vielleicht können Sie dann am Ende Ihres Lebens sagen: Ich habe gelebt, statt: Ich wurde gelebt.
Die Logik von „keine Zeit“ Die Redewendung „Ich habe keine Zeit“, wird von manchen Menschen aber auch genutzt, um die Wichtigkeit der eigenen Person, der Position, oder einer Aufgabe gegenüber anderen herauszustellen. Mit dem Satz unterstreichen diese Menschen in etwas narzisstischer Weise ihre Bedeutung und ihre große zeitliche Beanspruchung. Der Satz spuckt aber auch unausgesprochen in den Köpfen vieler Menschen herum, verbunden mit Gedanken wie: Ich werde nicht rechtzeitig fertig, oder: Ich schaffe das nicht, es ist zuviel. Durch dieses Denken erzeugen wir Stress. Eine gute Tagesplanung mit realistischen Zielen kann hier sehr hilfreich sein. Dabei ist der Satz „Ich habe keine Zeit“ in seiner Logik purer Unsinn. Gab es in Ihrem Leben jemals einen Augenblick in dem Sie keine Zeit hatten? Auch wenn Sie im Stau stehen, haben Sie Zeit. Niemand kann Zeit stehlen oder verlieren. Zeit ist immer da, in jedem Augenblick. Niemand hat mehr Zeit als Sie oder weniger, täglich 24 Stunden.
Jedoch, wir bewerten die Zeit, genauer gesagt die Tätigkeiten und Erlebnisse, die in der Zeit stattfinden. Die Zeit im Stau ist „verlorene Zeit”, weil wir urteilen, die Zeit am Schreibtisch oder in einer Besprechung wäre nützlicher gewesen. Zeit an sich ist wert-neutral, sie ist uns als Lebenszeit geschenkt. Die Frage, die wir uns zu Recht stellen, lautet: Was mache ich aus meiner Zeit? Das meint im Grunde: Was mache ich aus meinem Leben? Entschleunigung statt Hetze Zeit ist eines der zentralsten Themen in der Arbeitswelt. Ohne unser Wissen um die Dimension Zeit, wäre Planung, wirtschaftliches Handeln und unsere gesamte Kultur überhaupt nicht möglich. Viele Menschen jedoch erleben Zeit nicht als Zeit, die vernünftig geplant ist, die segensreich mit Arbeit gefüllt wird und als Zeit zum Leben, sondern sie erleben Zeit als Zeitnot, Zeitdruck, Zeit als viel zu knappe Ressource oder als Hetze und Stress. Sie suchen nach Methoden um ihre Arbeit schneller zu erledigen, nach Methoden für ein besseres Zeitmanagement und eine bessere Selbstorganisation. Die Lösung liegt jedoch nicht in Methoden zur schnelleren Erledigung der Arbeit, sondern sie liegt tiefer in der Einstellung, in den Werten und oft auch in den meist unbewussten Verhaltens- und Denkmustern, die unser Leben bestimmen. Von außen bekommen wir immer mehr Aufgaben aufgebürdet, die Anforderungen und Erwartungen an Qualität und Tempo steigern. Hinzu kommen bei vielen Menschen noch hohe eigene Ansprüche an sich selbst. So wächst der Zeitdruck und Leistungsdruck, unter dem viele leiden. Es ist die Menge der Arbeiten oft in Verbindung mit Verantwor-tungsgefühl und Pflichtbewusstsein, die zum Problem werden. Gleichzeitig verstellen diese vielen Aufgaben, die unsere Aufmerksamkeit binden, den Blick für das Wesentliche. Es ist ein Paradoxon, wir haben seit vielen Jahren eine wachsende Arbeitsentlastung im Alltag durch technische Hilfsmittel von der Waschmaschine bis zum Internet. Gleichzeitig nehmen jedoch die Menge der Arbeit, die Aufgaben und der Leistungsdruck zu, statt ab. Daher wird es immer mehr zur Aufgabe für jeden Einzelnen, sich selbst zu finden, das eigene Maß zu erkennen und sich abzugrenzen. Die heutige Zeit mit ihrer wachsenden Maßlosigkeit erfordert, dass wir selbst die Verantwortung übernehmen und das rechte Maß für uns finden, wie viel wir leisten können, oder zu erkennen, was wir „uns leisten können“, nicht zuletzt im Hinblick auf unsere Gesundheit. Ein guter Weg aus der Zeitfalle ist die Entschleunigung. Das meint nicht, dass wir ab morgen alles langsamer machen sollen. Es gibt jedoch sehr viele Gelegenheiten bestimmte Vorgänge achtsamer zu tun und vor allem geht es darum, die Dinge bewusster zu tun. Der Gewinn der Langsamkeit liegt im Mehr-Erleben, dass ist das, was wir in der Tiefe eigentlich suchen. Beim Wandern erleben wir die Natur mit allen Sinnen, was entgeht uns, wenn wir mit dem Auto über die Autobahn fahren. Mit Entschleunigung bringen wir ganz praktisch mehr Spiritualität in unser Leben. Das Geheimnis für ein entschleunigtes Leben liegt im Bewusstsein. Wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit ganz in dem verweilen, was wir gerade tun, dann hat Hektik keinen Raum. Achtsamkeit ist ein zentraler Begriff bei allen spirituellen Wegen, achtsam gehen, achtsam essen, achtsam sprechen, achtsam mit Menschen und Dingen umgehen. Unser ganzes Leben bietet sich an Achtsamkeit zu üben. Wenn wir die Dinge achtsam tun, schließen wir Hektik und Hetze automatisch aus. Unser tägliches Tun, wenn wir es achtsam vollziehen, ist das beste Übungsfeld und ist Spiritualität im Alltag in reinster Form.
Eine weitere Erfahrung von Entschleunigung sind alle Lebensbereiche, in denen wirgenießen. Sie entziehen sich dem Anspruch nach Immer-Schneller. Die Musik wird nicht besser, wenn wir die CD schneller abspielen. Ein schöner Tanz bringt nicht mehr Genuss, wenn wir hetzen. Ein gutes Essen schmeckt nicht besser, wenn wir es in uns hineinschlingen. Für die Pflege von Beziehungen brauchen wir Zeit. Ein schönes Gespräch leidet, wenn wir zu schnell sprechen oder zu wenige Pausen machen. Der Beschleunigung entziehen sich auch Heilungsvorgänge und soziale Prozesse. Alles, was wir mit Liebe verbinden, liegt außerhalb des “Immer- schneller”. In die Entschleunigung und in die Achtsamkeit können wir einsteigen indem wir lernen Anzuhalten und Aufzuhören mit gewohnten Verhaltensmustern. Unsere Gewohnheitsenergien sind stark und beharrlich, sie sind stärker als unser Wille. Vor allem, sie laufen automatisch ab, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Wir können sie nur allmählich auflösen, indem wir genau so beharrlich „halt“ sagen und uns bewusst machen, wie wir mit uns und anderen umgehen. Die Kunst Anzuhalten und Aufzuhören können wir genauso lernen wie eine Fremdsprache oder das Klavierspielen durch regelmäßiges Üben. Die Folge wird ein wachsendes Gefühl von Ruhe und Gelassenheit sein. Entschleunigung meint ein angemessenes, menschengerechtes Tempo. Wir können langsamer Essen, bewusst das Essen schmecken. Ärzte wissen, wie wichtig das sorgfältige Kauen für die Verdauung ist und wie gesundheitsschädlich hektisches Essen ist. Wir können langsamer gehen. Der Weg zum Bus oder auch nur zur Garage oder zu einer Konferenz kann ein Spaziergang werden, der bewusst erlebt wird. Es gibt viele Möglichkeiten, z.B. kann man auf dem Nachhauseweg eine Busstation früher aussteigen und den Spaziergang nach Hause genießen, langsam zur Ruhe kommen und dabei den Arbeitstag hinter sich lassen.
Praxistipp
1. Beobachten Sie Ihre gewohnten Verhaltensmuster oder Reaktionsweisen. Finden Sie die Bereiche in Ihrem Leben, im Beruf wie in der Freizeit, die Sie entschleunigen können, z.B. gehen, essen, usw. Am besten machen Sie sich eine Liste.
2. Entschleunigung und Achtsamkeit lassen sich einüben in kleinen Schritten, z.B. bei jedem Essen drei Bissen bewusst kauen, oder auf bestimmten Wegen zehn Schritte achtsam mit voller Aufmerksamkeit gehen. Nach und nach lässt sich das erweitern.
3. Beginnen Sie mit einer Tätigkeit, z.B. zehn Minuten früher aufstehen und gemütlich frühstücken. Üben Sie das neue Verhalten so oft es Ihnen möglich ist über mindestens einen Monat.
4. Beobachten Sie wie es Ihnen damit ergeht. Wenn sich das alte Muster wieder meldet (z.B. „mach schnell“) und sie bedrängt, dann begrüßen sie es freundlich wie einen alten Bekannten. Lächeln sie ihm zu und sagen sie ihm, dass jetzt etwas anderes dran ist, dann verliert es zunehmend seine Kraft.
5. Genießen Sie diese Zeit als „Zeit-für-mich“.
Aus Friedrich Assländer, Anselm Grün Spirituell Zeit gestalten, Vier Türme Verlag 2008
Dr. Friedrich Assländer
www.asslaender.de